Schwindende Welt von Sayaka Murata

Sehr cooles Buch wieder von Sayaka Murata! Ihren ersten ins Deutsche übersetzten Roman Die Ladenhüterin mochte ich sehr, mit Das Seidenraupenzimmer tat ich mich zum Ende hin etwas schwer – doch Schwindende Welt, ihr viertes (das dritte habe ich nicht gelesen) übersetztes Werk, ging für mich wieder mehr in die Richtung des Erstlings. Und genau deshalb hat es mir wirklich gefallen.

In letzter Zeit lese ich öfter Romane, die sich mit Mutterschaft und Kinderkriegen beschäftigen. Auch hier greift Murata dieses Thema auf – allerdings auf ihre ganz eigene, verzerrte Weise. Die Welt, in der wir uns bewegen, ist auf den ersten Blick fremd, aber doch so nah an unserer Gegenwart, dass es einen verstört und gleichzeitig fasziniert.

Wir begleiten Amane, die in einer Gesellschaft lebt, in der Sex als primitiv und schmutzig gilt. Ehen werden geschlossen, um gemeinsam Kinder großzuziehen – nicht, um romantische oder körperliche Liebe zu leben. Affären gibt es trotzdem, aber meist mit fiktiven Figuren aus Mangas oder Filmen. Kinder entstehen durch künstliche Befruchtung, Männer können ebenfalls schwanger werden, und in einer experimentellen Stadt werden Kinder gemeinschaftlich großgezogen – alle Frauen sind „Mutter“.

Doch Amane ist anders: Sie wurde noch auf „natürliche Weise“ gezeugt, was sie in den Augen vieler stigmatisiert. Und sie empfindet etwas, das in dieser Gesellschaft tabuisiert ist – Lust. Sie versucht, ihren Platz in einer Welt zu finden, die Intimität und Leidenschaft auslöscht und stattdessen Uniformität erschafft.

Wie schon in Die Ladenhüterin und Das Seidenraupenzimmer hinterfragt Murata mit scharfem Blick, was wir als „normal“ bezeichnen. Sie dreht Konventionen auf links und zwingt ihre Leserinnen, über Dinge wie Familie, Sexualität, Nähe und gesellschaftliche Normen nachzudenken. Gerade dieses Spiel mit Tabus – zwischen Humor, Horror und Weirdelementen – macht ihre Romane so einzigartig.

Zum Hörbuch:

Das Hörbuch, eingesprochen von Uta Simone, ist eine absolut gelungene Umsetzung. Ihre Stimme trifft genau den Ton, den Muratas Texte brauchen: eine Mischung aus Kühle, Distanz und unterschwelliger Spannung. Dadurch entsteht ein Sog, der die fremdartige und verstörende Welt noch intensiver erlebbar macht. Simone liest klar und unaufgeregt, aber mit feinen Nuancen, die die innere Zerrissenheit der Figuren spürbar werden lassen. Gerade die beklemmende Atmosphäre und die Brüche zwischen Alltäglichem und Bizarr-Weirdem transportiert sie meisterhaft – so wirkt das Hörbuch fast noch eindringlicher als die Lektüre allein.

Schwindende Welt ist verstörend, komisch, traurig und philosophisch zugleich. Für mich ein echter Pageturner mit hohem Diskussionspotenzial – und eines der Murata-Bücher, das mich nachhaltig beschäftigt hat.

Ein mutiger, verstörender und zugleich faszinierender Roman über Lust, Familie und gesellschaftliche Normen. Typisch Murata: weird, kompromisslos und absolut lesenswert.

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